Heimat neu erzählen

Narrative der Schweiz im Wandel

Warum eine neue Studie über Narrative?

Nationale Narrative prägen, wie wir unser Land sehen und wie wir darüber sprechen. Doch viele dieser Erzählungen stammen aus einer anderen Zeit. Wir haben uns gefragt, ob sich das Selbstbild der Schweiz verändert hat. Erzählen wir uns noch die gleichen Geschichten oder brauchen wir neue Narrative?

Im Auftrag von Pro Futuris, dem Think + Do Tank der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, haben fünf Masterstudierende des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Zürich untersucht, wie sich nationale Narrative anpassen, erweitern oder neu erzählen lassen. Ausgehend von historischen Narrativen wurden mittels Reden von Politiker:innen, Ergebnissen aus Bevölkerungsumfragen, wissenschaftlicher Literatur und weiteren relevanten Dokumenten fünf zukunftsgerichtete Narrative entwickelt und anschliessend deren Akzeptanz in der Schweizer Bevölkerung getestet.

Die zukunftsgerichteten Narrative

Was sind nationale Narrative?

Die zukunftsgerichteten Narrative im Überblick

Titel

Heimat neu erzählen

Untertitel

Narrative der Schweiz im Wandel

Publikationsdatum

Juli 2025

Autor*innen

Raphael Bret
Pavlos Frouzakis
Silvana Grunder
Aurora Palanza
Lorenzo Zambelli

Inhalt

Diese Studie untersucht, wie sich nationale Narrative weiterentwickeln lassen, um aktuelle und zukünftige Herausforderungen anzugehen und mit Blick auf die Zukunft Orientierung bieten zu können.

Medienkontakt

Die Ergebnisse in Kürze

Die weiterentwickelten, zukunftsgerichteten nationalen Narrative erfahren breite Zustimmung in der Stimmbevölkerung und können somit verbindend wirken. Gleichzeitig bieten sie Raum für Interpretation und politische Färbung. Die verschiedenen getesteten Ausprägungen der Narrative legen offen, in welchen Bereichen sich künftig die politischen Debatten zuspitzen könnten. Die Studie zeigt auf, dass die Konfliktlinien am deutlichsten entlang parteipolitischer Zugehörigkeiten verlaufen, wie untenstehende, zusammenfassende Abbildung aufzeigt.
Präferenzen der Ausprägungen – Vergleich aller Elektorate und der Nichtwählenden 
Anmerkung: Wirtschaftsnarrativ: Wirtschaftsmodell Schweiz; Naturnarrativ: Naturnahe Schweiz; Neutralitätsnarrativ: Internationale, neutrale Schweiz; Kompromissnarrativ: Kompromissbereite Schweiz; Solidaritätsnarrativ: Solidarische Schweiz Antworten gewichtet nach Bildung, Alter, Siedlungstyp, Geschlecht, Partei und Kanton 

Zustimmung zu den Narrativen

Trotz gesellschaftlicher Polarisierung zeigt die Studie ein überraschend einheitliches Bild: Alle fünf Narrative stossen in der Bevölkerung auf mehrheitliche Zustimmung (gemessen an den Antwortkategorien «eher» und «voll und ganz»). Das Wirtschaftsnarrativ erhält mit rund 87 % Zustimmung die breiteste Unterstützung. Am wenigsten Zustimmung erfährt das Solidaritätsnarrativ mit 66 %. Die drei weiteren Narrative zur internationalen & neutralen, naturnahen und kompromissfähigen Schweiz bewegen sich im Bereich von 80 bis 82 % Zustimmung.
Diese Zahlen zeigen: Nationale Narrative können ein verbindendes Element sein. Gleichzeitig bleiben sie inhaltlich formbar und lassen Raum für verschiedene Interpretationen: Die getesteten Ausprägungen zeigen, wo künftige Spannungsfelder im politischen Diskurs verlaufen könnten und welches Zukunftsbild der Schweiz für unterschiedliche Parteiwählerschaften wichtig ist.  

Zustimmung zu den Narrativen nach Partei-Wählerschaft

Direkter Vergleich der Narrative für SP-Wählende

Im direkten Vergleich der Narrative setzt ein Drittel der SP-Wähler:innen (32 %) das Solidaritätsnarrativ (32%), ein Viertel das Kompromissnarrativ (ca. 27 %) und rund 17 % das Narrativ der naturnahen Schweiz an erste Stelle. Das Wirtschaftsmodell Schweiz sowie die internationale, neutrale Schweiz spielen eine eher untergeordnete Rolle. Insbesondere das Narrativ der internationalen, neutralen Schweiz wird von keinem anderen Elektorat so häufig auf den letzten Platz gesetzt.  

Nicht in dieser Grafik: Einzeln abgefragt sind alle fünf Narrative unter den SP-Wähler:innen mehrheitsfähig. Insbesondere das Narrativ der solidarischen Schweiz erfährt durch über ein Drittel der SP-Wählenden Ablehnung, während es im Ranking an erster Stelle steht. Das Wirtschaftsnarrativ hingegen geniesst hohe Zustimmung, steht aber auf der Prioritätenliste der SP-Wählenden weiter unten.

Direkter Vergleich der Narrative für Grüne-Wählende

Über die Hälfte der Grünen-Wählerschaft räumt der naturnahen Schweiz und rund die Hälfte der solidarischen Schweiz die höchste oder zweithöchste Priorität ein. Die internationale, neutrale Schweiz sowie auch das Wirtschaftsnarrativ sind weiter unten auf ihrer Prioritätenliste und werden von rund der Hälfte auf den letzten Plätzen eingereiht.

Nicht in dieser Grafik: Einzeln abgefragt sind alle fünf Narrative unter den Grünen-Wähler:innen mehrheitsfähig. Während das Wirtschaftsnarrativ eine hohe Zustimmung, aber eine tiefe Priorität geniesst, erfährt das Solidaritätsnarrativ eine vergleichsweise tiefe Zustimmung und eine hohe Priorität.

Direkter Vergleich der Narrative für GLP-Wählende

Das Kompromiss- und das Wirtschaftsnarrativ wählen die GLP-Wähler:innen am häufigsten auf die ersten beiden Plätze. Im Parteienvergleich schneidet das Kompromissnarrativ bei den GLP-Wähler:innen deutlich am besten ab. Auf tieferen Rängen platziert die GLP-Wählerschaft die internationale/neutrale, die naturnahe und die solidarische Schweiz.

Nicht in dieser Grafik: Einzeln abgefragt sind alle fünf Narrative unter den GLP-Wähler:innen mehrheitsfähig, wobei das Wirtschafts- und das Kompromissnarrativ am beliebtesten sind. Die stärkste Ablehnung, allerdings nur knapp 20 %, erfährt wiederum das Narrativ der solidarischen Schweiz.

Direkter Vergleich der Narrative für Mitte-Wählende

Das Narrativ des Wirtschaftsmodells platzieren die Mitte-Wählenden im direkten Narrativ-Vergleich am häufigsten auf dem ersten Rang platziert. Die Erzählungen der solidarischen und der naturnahen Schweiz werden tendenziell tiefer platziert. Die Mitte-Wählerschaft zieht die Erzählung einer kompromissbereiten und reformfähigen Schweiz jener einer neutralen und international zusammenarbeitenden Schweiz vor.

Nicht in dieser Grafik: Einzeln abgefragt sind alle fünf Narrative unter den Mitte-Wähler:innen mehrheitsfähig und weit über 50% stimmen allen Erzählungen «voll und ganz» oder «eher» zu. Die tiefste Zustimmung erfährt das Narrativ der solidarischen Schweiz mit rund 72%, alle anderen haben Zustimmungswerte von mehr als 85%.

Direkter Vergleich der Narrative für FDP-Wählende

Rund die Hälfte der FDP-Wähler:innen setzt das Narrativ des wirtschaftlichen Erfolgsmodells an die erste Stelle, rund ein Viertel setzt es auf Rang zwei. Diesem folgen das Kompromissnarrativ und das Narrativ der internationalen, neutralen Schweiz, welche vergleichbar oft positiv bewertet werden. Die solidarische Schweiz und das Narrativ der naturnahen Schweiz finden sich öfter auf den hinteren Rängen.  

Nicht in dieser Grafik: Einzeln abgefragt erfahren alle fünf Narrative von FDP-Wähler:innen deutliche Zustimmung. Dem wirtschaftlichen Erfolgsmodell stimmten mit über 90% die meisten «eher» oder «voll und ganz» zu. Die beiden Narrative der solidarischen Schweiz und der kompromissbereiten Schweiz erhielten mit 18% bzw. 15% am meisten Ablehnung.

Direkter Vergleich der Narrative für SVP-Wählende

Das Wirtschaftsnarrativ findet bei den SVP-Wähler:innen klar den grössten Anklang: Im direkten Vergleich mit den anderen Narrativen wählten sie es in 43% der Fälle auf den ersten Rang. Auch das Narrativ der internationalen, neutralen Schweiz erfährt viel Zustimmung und wird von über der Hälfte der Wähler:innen auf den ersten oder zweiten Platz gewählt. Am wenigsten beliebt ist das Solidaritätsnarrativ, welches in der Hälfte aller Bewertungen auf dem fünften Platz verortet wird.

Nicht in dieser Grafik: Einzeln abgefragt sind alle fünf Narrative unter den SVP-Wähler:innen mehrheitsfähig. Das Narrativ einer naturnahen Schweiz erfährt die zweithöchste Zustimmung nach dem Wirtschaftsnarrativ und vor dem Narrativ der internationalen, neutralen Schweiz. Am wenigsten Zustimmung erfährt das Solidaritätsnarrativ, wobei der Wert mit 63% noch immer relativ hoch ist.

Zustimmung zu den Narrativ-Ausprägungen

Im Schnitt über die Stimmbevölkerung zeigt sich bei keinem der Narrative eine klare Präferenz für eine der beiden Ausprägungen. Ausnahme ist das Narrativ der internationalen, neutralen Schweiz, wo sich zeigt, dass die internationale Zusammenarbeit gegenüber der Unabhängigkeit bevorzugt wird.

Aber: Es zeigen sich soziodemografische Unterschiede

Die Zukunftsbilder der Partei-Wählerschaften

Direkter Vergleich der Narrative für SP-Wählende

Das Zukunftsbild der SP-Wählerschaft ist das einer solidarischen Schweiz, in der der Staat sozialen Ausgleich schafft und der grösser werdenden Schere zwischen Arm und Reich entgegenwirkt. Sie wünscht sich ein Land, das ökologisch verantwortlich handelt und insbesondere zur Eindämmung des globalen Klimawandels beiträgt. Gleichzeitig soll die Schweiz ein Ort sein, an dem Dialog gepflegt und gesellschaftliche Minderheiten angehört werden. Auch wirtschaftlicher Erfolg wird angestrebt, jedoch stets in Verbindung mit sozialem Ausgleich. Die Schweiz soll nicht auf nationale Abgrenzung setzen, sondern auf Zusammenarbeit mit internationalen Partnern.

Direkter Vergleich der Narrative für GLP-Wählende

Das Zukunftsbild der Grünen-Wähler:innen ist das einer ökologischen Schweiz, die sozial gerecht handelt und Kompromisse eingeht. Dabei steht insbesondere der Schutz des Klimas, der Natur und der Biodiversität im Zentrum. Diese werden als die grössten Herausforderungen der Zukunft eingeschätzt. Klimaschutz und Landschaftsschutz sind dabei gleichermassen wichtig. Ebenso legen die Wählenden Wert auf eine solidarische Gesellschaft, in der Minderheiten gehört werden und wirtschaftliche Erfolge breit geteilt werden. Aussenpolitisch bevorzugen Grüne-Wählende eine international vernetzte Schweiz, die sich nicht abgrenzt.

Direkter Vergleich der Narrative für GLP-Wählende

Die GLP-Wähler:innen wünschen sich eine Schweiz, die ihren wirtschaftlichen Erfolg bewahrt und zugleich Reformen mit Kompromissbereitschaft vorantreibt. Die Kompromissentscheide sollten dabei tendenziell die Minderheitsinteressen berücksichtigen. Weiter ist dem GLP-Elektorat wichtig, dass die Herausforderung des Klimawandels angegangen wird – wenn es sein muss auch auf Kosten des Landschaftsschutzes. Damit unterscheidet sich die GLP auch von den Grünen. Aussenpolitisch ist für GLP-Wählende klar: Es soll kein Alleingang sein. Die Schweiz braucht gute diplomatische, wirtschaftliche und politische Beziehungen zu anderen Ländern, um ihren Wohlstand, ihre Werte und ihre Sicherheit zu sichern.

Direkter Vergleich der Narrative für Mitte-Wählende

Die Mitte-Wähler:innen wünschen sich für die Zukunft eine Schweiz, welche die Herausforderungen des Bevölkerungswachstums, des Klimawandels, der Schere zwischen Arm und Reich, der finanziellen Belastung des Mittelstandes und der Beziehungen zu Europa angeht. Dabei soll das wirtschaftliche Erfolgsmodell weiter erhalten bleiben und in die internationale Zusammenarbeit investiert werden. Die Wählerschaft der Mitte zeigt eine leichte Tendenz zu einer freien Wirtschaft, welche Innovation fördert und Einschränkungen verhindert, gegenüber einer Vision, in der die Wirtschaft durch staatliche Massnahmen ihre Erfolge mit der Bevölkerung teilt. Das Bild einer Schweiz, welche niemanden vom gesellschaftlichen Leben ausschliesst und humanitär weltweit aktiv ist, gehört ebenso zur Zukunftsvorstellung des Mitte-Elektorats. Solidarität wird dabei auch durch Eigenverantwortung gelebt – denn die staatlichen Ressourcen sind begrenzt.

Direkter Vergleich der Narrative für FDP-Wählende

DDie FDP-Wähler:innen  wünschen sich für die Zukunft eine wirtschaftlich erfolgreiche Schweiz, deren Stärken in Fleiss, Innovationskraft, Qualität und Stabilität liegen. Um dies zu erreichen, soll die Wirtschaft möglichst wenig reguliert werden. Sie legen grossen Wert auf die individuelle Eigenverantwortung, wenn es um Solidarität und staatliche Unterstützung geht. Aussenpolitisch wird eine unabhängige und neutrale, aber dennoch international vernetzte Schweiz angestrebt, da die Zusammenarbeit mit anderen Ländern als Voraussetzung für Sicherheit und Wohlstand gesehen wird. Ihre Schweiz der Zukunft zeichnet sich auch durch Kompromissbereitschaft und respektvolle Debatten aus, welche zusammen die Schweiz und ihre Reformfähigkeit weiterbringen. Die Mehrheitsmeinung soll sich tendenziell aber nicht einer Minderheit hintenanstellen müssen. Die Wähler:innen der FDP schätzen auch eine intakte Natur und Respekt vor dem Schweizer Landschaftsbild – ohne eine eindeutige Präferenz für eine globalere Perspektive aus der Warte des Klimawandels gegenüber einem lokaleren Fokus auf Landschaftsschutz zu äussern.

Direkter Vergleich der Narrative für SVP-Wählende

SVP-Wähler:innen  wünschen sich für die Zukunft eine Schweiz, in der Eigenverantwortung in sozialen Fragen zentral ist. Wirtschaftliche Freiheit soll geachtet und bewahrt werden, um Innovationen und Wohlstand zu gewährleisten. Die Wählenden der SVP identifizieren sich mit den Landschaften und den Alpen der Schweiz und legen Wert darauf, diese gegenüber Interventionen zur Eindämmung des Klimawandels zu bewahren. Die SVP-Wählerschaft gewichtet die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz höher als internationale Zusammenarbeit. Sie akzeptiert Kompromisse als Teil der politischen Kultur der Schweiz, aber lehnt eine zu starke Gewichtung von Minderheitsmeinungen ab.

Möchtest du mehr zu Narrativen lesen?

Diese Studie ist ein Folgeprojekt von «Geschichten der Heimat» von 2023. In «Geschichten der Heimat» haben ebenfalls Studierende des IPZ in Auftrag von Pro Futuris eine Studie durchgeführt und dabei die Verwendung historischer Narrative in politischen Elitendiskursen der letzten 50 Jahren analysiert.

Wer wir sind

Diese Studie wurde von Master-Studierenden des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Zürich – Raphael Bret, Pavlos Frouzakis, Silvana Grunder, Aurora Palanza und Lorenzo Zambelli – im Rahmen eines einjährigen Capstone-Kurses unter der Leitung von Prof. Dr. Karsten Donnay durchgeführt. Pro Futuris ist Impuls- und Auftraggeberin für das Projekt und hat die Studierenden während des gesamten Kurses eng begleitet.

Pro Futuris Team

Andreas Müller
Co-Projektleiter
Isabel Schuler
Co-Projektleiterin
Fiona Schärer
Junior Projektleiterin

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